Begründungen der Jury

Beste Reportage  

Im März 2022 wurde Deutschlands größte Flüchtlingsunterkunft in Berlin-Tegel eröffnet. Sie sollte ein Provisorium sein, doch beherbergt noch heute 5000 Menschen unter katastrophalen Bedingungen. Frauke Hunfeld und Alexander Kauschanski haben für den SPIEGEL hinter die Zäune der Flüchtlingsunterkunft geblickt. Ihr Text ist das Ergebnis von monatelanger Recherche, die klar macht, wie es zu den katastrophalen Bedingungen kommen konnte. Ihre Reportage “Ein Ort, den es nicht geben dürfte” macht wütend. Gleichzeitig zeigt sie, wie wir auf Dinge blicken und was recherchierbar ist. Damit machen Frauke Hunfeld und Alexander Kauschanski Hoffnung für den Journalismus in Deutschland. Die Jury findet: “Ein Text, den es geben musste.”

 

Freie Reportage

Mit akribischer Recherche und erzählerischer Kraft zeigt Christian Schweppe als freier Reporter für DIE ZEIT das volle Ausmaß des Versagens beim Bundeswehr-Abzug aus Afghanistan im Sommer 2021. Geheime Papiere enthüllen, wie frühe Warnungen ignoriert und Verantwortung abgewälzt wurden. Stattdessen prägten politische Eigeninteressen und Wahlkampf die Entscheidungsprozesse, die zu chaotischer Evakuierung und Verrat an afghanischen Ortskräften führten. Christian Schweppe (der nach Widerständen in der Redaktion alleine weiter recherchierte) verwandelt in seinem Text "Wahnsinn. Eine Riesenscheiße." Akten in eine mitreißende Geschichte, die durch Tempo, Relevanz und journalistisches Handwerk glänzt. “Christian Schweppe zeigt in seinem fulminanten Text mit einer unglaublichen Detail-Tiefe, was freier Journalismus leisten kann.”, befindet die Jury.

 

Beste Investigation

Hunger als Waffe und Helfer, die an unüberwindbare Grenzen stoßen. In ihrer investigativen Recherche für die ZEIT schildern Yassin Musharbash, Amrai Coen, Miguel Helm, Luisa Hommerich, Suha Ma’ayeh, Samiha Shafy, Laila Sieber und Vanessa Vu das Leid der Menschen in Gaza. Trotz der räumlichen Distanz und ohne vor Ort sein zu können, schaffen es die Autor:innen, die humanitäre Katastrophe greifbar zu machen. Die Jury lobte, dass der Text nicht nach Effekten hascht, sondern Fakten aufdeckt. Auf den Punkt gebracht mit einem Wort, dem Titel des Textes: „Hunger“.

 

Bester Podcast

Wo beginnt Machtmissbrauch? In ihrem Podcast „Rammstein - Row Zero“ recherchieren die SZ- und NDR-Reporter:innen Daniel Drepper, Elena Kuch, Nadja Mitzkat und Sebastian Pittelkow zu den Vorwürfen gegen Rammstein-Sänger Till Lindemann. Sie gehen der Frage nach, wo moralisches Fehlverhalten aufhört und wo Strafbarkeit beginnt. Die Geschichte der mutmaßlichen Opfer erzählen sie mit Feingefühl. Die Jury unterstrich den Mut, sich gegen einen mächtigen Mann wie Till Lindemann zu stellen und dafür auch einen Rechtsstreit in Kauf zu nehmen.

 

Newcomer*

Acht Monate lang recherchierte Sophie Sommer das Dunkelfeld im Umkreis des Dortmunder Hauptbahnhofs, wo Minderjährige seit Jahren zur Prostitution gezwungen werden. Feinfühlig und akribisch schreibt sie das Schicksal ihrer Protagonistin Maxi und die juristische Folgenlosigkeit der Verbrechen auf, die dort alltäglich passieren. Sommer bringt so mit ihrer Reportage “Ich spüre noch seine Hände auf mir” Licht in eine der dunkelsten Realitäten Deutschlands. Besonders eindrucksvoll ist die starke Einzelleistung der Journalistin einer regionalen Tageszeitung und die klassische Straßenrecherche, die heute nicht mehr selbstverständlich ist. “Der Text macht fassungslos und hat einige von uns über Wochen verfolgt.”, lobt die Jury.

 

Datenjournalismus und Multimedia

Es können Sekunden sein, die darüber entscheiden, ob ein Herz wieder schlägt oder für immer aussetzt. Das zeigt die SWR-Recherche „Herzstillstand kann alle treffen, jede Sekunde zählt“. Darin zeigen Jan Russezki, Maren Krämer, Gina La Mela, Tom Burggraf, Patrick Hünerfeld, Katharina Forstmair, Simon Jockers, Felix Michel, David Will, Ulrich Lang, Ina Kohler, Natalie Widmann, Heiko Sonnenberg, Michael Kreil, Nico Heiliger, Johannes Schmid-Johannsen und Elisa Harlan, dass In vielen deutschen Gemeinden die Hilfe von Notfallsanitätern immer noch zu spät kommt. Die Jury würdigte die Recherche als herausragendes Beispiel für datenbasierten Journalismus, der sowohl informativ als auch visuell packend ist.

 

Beste Wissenschaftsreportage

In “Was heißt schon ‘normal’?” schildert Diana Laarz für GEO die Geschichte ihres Sohnes David, dessen Entwicklungsverzögerungen auf einen Gendefekt zurückzuführen sind. Sie beschreibt einfühlsam die Herausforderungen, ihren Sohn zu verstehen, und beleuchtet gleichzeitig die Arbeit von Ärzt:innen, die mit einer Mischung aus Sorgfalt und Wissenschaft nach Antworten suchen. Der Text überzeugte die Jury wegen seiner Balance zwischen persönlicher Reflexion und faktenbasierter Recherche. Laarz habe es geschafft, ohne Verklärung und ohne ihr Kind auszubeuten, ein Thema von großer Tragweite zugänglich und berührend zu erzählen.

 

Beste Lokalreportage

In ihrem Text „Ein Leben für Großschirma“ erzählt Anne Lena Mösken die Geschichte des FDP-Bürgermeisters Volkmar Schreiter, der sich im Oktober 2023 das Leben genommen hat. Für ihre Reportage hat die stellvertretende Chefredakteurin der Freien Presse minutiös die Umstände recherchiert, die zu dem Suizid beigetragen haben könnten. Immer wieder kreuzen die Leser:innen ihrer Reportage den Weg des AfD-Mannes Rolf Weigand, der den Verstorbenen jahrelang getriezt hat. Dabei macht sich Anne Lena Mösken auf eine Spurensuche, die das Große im Kleinen zeigt. Ohne Schuldzuweisungen schafft sie es, die Frage aufzuwerfen: Was machen die politischen Debatten der Gegenwart mit unserer Gesellschaft?

 

Bester Essay

Hakenkreuz-Schmierereien an Hauswänden und Fassaden sind in vielen Städten ein alltägliches Problem – häufig tritt es jedoch in ostdeutschen Bundesländern auf. In ihrem Essay für die Freie Presse geht Manuela Müller der Frage nach, warum das so ist. Ihren Blick lenkt sie auf das Bildungssystem formuliert eine klare These: „Die Ostlehrer zogen sich im Politikunterricht aufs Technokratische zurück.” Differenziert und mit einem teils schroffen, teils poetisch-traurigen Ton analysiert Müller, warum und wie politische Bildung an ostdeutschen Schulen zu kurz kommt. Der Text mit dem Titel „Die Hakenkreuze von nebenan“ gewinnt die Auszeichnung Bester Essay des Jahres. Er beschreibt nach Einschätzung der Jury auf eindringliche Weise ein Problem, das vielen Leserinnen und Lesern in diesem Umfang nicht bewusst gewesen sein dürfte.


Bestes Interview

Zwangsouting, Gefängnis, Therapie. All das drohte homosexuellen Männern in Deutschland in der Vergangenheit, erst 1994 wurde der Paragraph 175 nach mehr als 120 Jahren aus dem Gesetzbuch gestrichen. Er kriminalisierte Homosexualität. Lale Artun und Eva Sudholt haben zwei Männer an einen Tisch gebracht, für die der Paragraph 175 keine gegensätzlichere Rolle hätte spielen können. Der eine verurteilte als Richter in den 60er Jahren homosexuelle Männer, der andere wurde für seine Homosexualität verurteilt. In ihrem Interview “Verbotene Liebe” schonen die Reporterinnen ihre Interviewpartner nicht, fühlen nach, sind aufmerksam. Sie schaffen einen Raum, der selten ist: für Unverhandeltes in unserer Gesellschaft, für Persönliches, für Fragilität.

 

Beste Kulturreportage

Die „School Boards“ in US-amerikanischen Schulen haben eigentlich einen demokratischen Grundgedanken: Eltern können mitbestimmen, welche Bücher auf die Lehrpläne ihrer Kinder kommen. Josef Wirnshofer hat für die Süddeutsche Zeitung nachgezeichnet, wie ein Eltern-Gremium im Swing-State Pennsylvania zum Schauplatz eines erbitterten Kulturkampfes wurde. Er macht auch für ein deutsches Publikum greifbar, wie rechte Netzwerke in den USA Einfluss auf Bildung nehmen. In seiner Reportage “Im Land der verbotenen Bücher” zeigt Josef Wirnsdorfer auf die großen Linien, die derzeit alle westlichen Gesellschaften zu zerreißen drohen. Die Jury ist beeindruckt: “In unserer heutigen Jurysitzung haben wir keinen Text gefunden, der in seiner gesamtgesellschaftlichen Aktualität und Relevanz so unerträglich dringlich ist.”

 

Die Ausschreibung

Seit 2009 verleihen wir am ersten Montag im Dezember den Reporter:innen-Preis - aktuell in zwölf Kategorien, von Reportage bis Investigation, von Essay bis Datenjournalismus. Inzwischen ist der schwere Messingstift - er erinnert an einen vielfach angespitzten Bleistift - eine begehrte Trophäe im deutschsprachigen Journalismus.

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Die Jury

Ein Journalistenpreis kann nur so gut sein wie seine Jury. Wer über die besten Texte des Jahres urteilen will, braucht ein feines Ohr. Und das haben unsere Jurorinnen und Juroren. Einige entstammen dem Printjournalismus, aber es sind auch Fernsehleute dabei, Schauspieler, Wissenschafterinnen, Unternehmer.

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