Begründungen der Jury

Beste Reportage

„Zahlreiche Flüchtlinge ertrunken“ – diese Meldung ist oft nicht mehr als eine Randnotiz. Nicola Meier setzt dem Vergessen ihre kluge, feinfühlige und exzellent recherchierte Reportage „Über Bord“ im „SZ-Magazin“ entgegen. Akribisch zeichnet sie ein Bootsunglück aus dem Jahr 2015 nach: Auf dem Weg vom türkischen Festland zur griechischen Insel Lesbos brach kurz vor dem Ufer ein Holzboot auseinander, darin mehr als 300 Menschen, die nun im Wasser ums Überleben kämpften. Mehr als 70 Menschen starben. Nicola Meier rekonstruiert die Tragödie, geht dem Schicksal Einzelner nach, spricht mit Überlebenden und Angehörigen. Wie sie sich dabei präzise an Tatsachen hält, beschreibt, ohne zu werten, macht die Wucht dieser Reportage aus, die nach der Lektüre noch lange nachhallt.

 

Beste Investigation

Den Preis für die Beste Investigation erhält das „Pegasus-Projekt“, eine gemeinsame Recherche von „Süddeutscher Zeitung“ und „Zeit“. Verhandelt wird darin eines der großen Probleme dieser Zeit: Die Macht des Staates im digitalen Zeitalter. Eine israelische Firma hat eine Software erfunden, um die Smartphones von Kriminellen auszuspähen, zugleich wird sie als Waffe gegen Oppositionelle missbraucht. Das Pegasus-Projekt war eine internationale Recherche, in Deutschland wurde sie von zwei Redaktionen vorangetrieben, mit Bastian Obermayer, Ralf Wiegand, Frederik Obermaier; Moritz Baumstieger, Jannis Brühl, Bernd Dörries, Florian Flade, Kristiana Ludwig, Georg Mascolo, Hannes Munzinger, Max Muth, Nadia Pantel, David Pfeifer, Holger Stark, Kai Biermann, Sascha Venohr, Astrid Geisler, Gero von Randow, Jan Ross, Sven Wolters, Luisa Hommerich. „Eine gewaltige Untersuchung, eine starke Recherche, eine handwerklich herausragende Geschichte“, urteilte die Jury. „Wenn ein Thema die Investigativ-Journalisten in diesem Jahr gefordert hat, dann das Thema Spionagesoftware und Hackerangriffe, und kein Recherche-Team hat so überzeugend gearbeitet wie dieses.“

 

Bester Essay

„Kann man an der Macht ein guter Mensch sein?“ hat Bernd Ulrich in der „Zeit“ gefragt, in einem langen, glänzend geschriebenen Text über die Machtpolitikerin Angela Merkel – und gewinnt dafür den Preis für den Besten Essay. Politik gilt gemeinhin als ein Spiel von Intrige, Demütigung und Rache. Wie konnte sich Angela Merkel dem entziehen und trotzdem Erfolg haben? Dazu hat Bernd Ulrich eine Menge zu sagen, in seinem analytisch brillanten, elegant geschriebenem Essay. Gekonnt verschränkt er Porträt, Chronik und Gegenwartsdiagnose – und liefert einen ganz neuen Beitrag zur neueren Geschichte der BRD.

 

Beste Lokalreportage

Eine georgische Familie – sieben Kinder, beliebt, bestens integriert – lebt seit acht Jahren in Pirna. Doch dann holt die Polizei sie mitten in der Nacht aus den Betten und schiebt sie ab in ihre „Heimat“. In „Die Heimat, die uns keine ist“ hat Franziska Klemenz von der „Sächsischen Zeitung“ das Schicksal der Familie Imerlishvili über Monate begleitet. Glänzend gelingt es ihr, die emotionale und gesellschaftliche Seite der Geschichte immer wieder mit der Kaltschnäuzigkeit der Behörden zu verflechten, differenziert schildert sie das Verhalten der Polizist:innen. Bis nach Georgien folgt sie der Familie und beschreibt den sinnentleerten Alltag in der „Heimat“, die die Kinder nur vom Hörensagen kennen. Schließlich urteilt ein Gericht: Die Abschiebung war rechtswidrig, die Familie darf zurückkehren. Und auch da ist Franziska Klemenz zur Stelle.

 

Beste Wissenschaftsreportage

„Die Welt-Impfung“ von Vivian Pasquet und Martin Schlak ist eine der schönsten, überzeugendsten und umfassendsten Erzählungen in diesem Corona-Jahr, urteilte die Jury, und verlieh ihnen den Preis für die beste Wissenschaftsreportage des Jahres. Erschienen ist das Stück im Dezember 2020 parallel in „Geo“ und „stern“. Die Reportage zeigt, wie sehr wir es mit einer Pandemie zu tun haben – mit einer Welt-Krise. Deren Bewältigung wurde nicht nur in den Forschungslaboren von Milliarden-Konzernen vorangebracht, sondern auch auf einer Covid-Station in Sao Paolo, in einem Gesundheits-Institut in Shanghai, mithilfe von zehntausenden Probanden, in deutschen Verteilungslagern, bei Statistikern ebenso wie in den weltberühmt gewordenen Laboren in Mainz und Tübingen. In wenigen Monaten gelang der Menschheit, was sonst Jahre dauert: einen Schutz gegen ein tödliches Virus zu finden. Vivian Pasquet und Martin Schlak haben diese beispiellose Unternehmung nachgezeichnet – und eine beispielhafte Wissenschaftsreportage geschrieben.


Bester freier Reporter

Was tun? Die Frage ist alt, aber wird nur selten so dringlich erfahrbar und so packend erzählt wie in Johannes Böhme Reportage „Was will der Wal?“ aus den "Zeit-Magazin" über das einst in Holland gestrandete Orca-Weibchen Morgan. Seit seiner Rettung von Menschenhand vor mehr als zehn Jahren fristet es ein Leben in Vergnügungsparks. Mit Eleganz und Sorgfalt legt Johannes Böhme die Komplexität eines Falles dar, der das Publikum, einmal um die ganze Welt führt. Und schreibt eine Parabel über eine zentrale Frage unserer Zeit: Wie der Mensch mit den letzten Resten von Wildheit im Zeitalter des Anthropozäns umgeht. „Sofern die Funktion von Reportagen darin liegt, uns die oft tragische Komplexität unserer Lebenswelt vor Augen zu führen und anhand der dichten Beschreibung von Einzelfällen den Blick für Fragen von universalem Gehalt zu weiten“, lobte Laudator Wolfram Eilenberger, „hat der Autor diese Aufgabe in beeindruckender Weise gelöst“.

 

Bestes Interview

Schmerzhaft genau sind die Bilder, die sich durch dieses aufrüttelnde Interview vor unsere Verdrängungsmechanismen schieben. Bei jedem neuen Schiffsunglück im Mittelmeer werden wir zukünftig daran denken, „was diese Kinder in ihren Taschen hatten“. Der Preis für das Beste Interview geht an Susanne Kippenberger und Julia Prosinger vom „Tagesspiegel“ für ihr Gespräch „Was bleibt von den Ertrunkenen?“. Stürzt ein Flugzeug ab, wird alles daran gesetzt, die sterblichen Überreste der Opfer zu bergen. Sinkt ein Boot mit Geflüchteten, geschieht meist nichts. Die Forensikerin Cristina Cattaneo versucht, die Toten des Mittelmeers zu identifizieren, ihnen einen Namen, ihren Angehörigen Gewissheit zu geben. Susanne Kippenberger und Julia Prosinger haben sie befragt, haken so penetrant nach, dass uns die Antworten der Forensikerin nicht mehr aus dem Kopf gehen werden. Und geben so den toten Geflüchteten durch Cristina Cattaneo eine Stimme.

 

Beste Kulturreportage

Pathé’O ist einer der wichtigsten Modeschöpfer Afrikas. Er nähte schon Hemden für Nelson Mandela und sieht sich selbst als Kämpfer: Die Menschen sollen sich endlich von der Übermacht der westlichen Modeindustrie befreien. Barbara Achermann hat Pathé’Ofür für das „Zeit Magazin“ porträtiert und eine atmosphärische, sinnliche Reportage geschrieben, die mit gängigen Afrika-Klischees bricht und es "im Kopf kribbeln lässt", so die Jury. Achermann führt vor, dass Textil ein überaus politisches Element ist, zeigt, wie sehr Mode von Europa aus gedacht wird, macht klar, wie sehr Europa Entwicklungshilfe braucht – aus Afrika.

 

Beste Sportreportage

Thorsten Schmitz von der „Süddeutschen Zeitung“ begleitete für seine Reportage „Ins kalte Wasser“ die Schwimmerin Gina Böttcher auf dem Weg zu den Paralympics in Tokio. Als Mädchen wäre sie fast ertrunken, weil sie sich mit ihren verkürzten Armen und Beinen kaum über Wasser halten konnte. Doch sie lernte nicht nur schwimmen, sie wurde darin eine Meisterin. Thorsten Schmitz zeigt, was große Reportagen ausmacht: beiläufig, durch wertfreie Beschreibung eine Welt zu erschließen. Die sperrige Persönlichkeit der jungen Schwimmerin, das Leben mit einer Behinderung, der Fanatismus von Sport – dank der Dichte seiner Recherche erzeugt Schmitz eine packende Nähe zu Gina, durch seine nüchtern-elegante Sprache die gleichsam wichtige Distanz, damit das Publikum sich selbst ein Bild machen kann. Abseits von solch kühler Textanalyse gibt uns seine Reportage das schönste Gefühl: Diesen Autor interessiert seine Protagonistin wirklich, so die Jury.

 

Bester Podcast

Der Preis für den besten erzählenden Podcast geht an „Cui Bono: WTF happened to Ken Jebsen?“, produziert von Khesrau Behroz, Tobias Bauckhage, Pascale Müller, Sören Musyal. In einer sechsteilige Dokumentar-Podcast-Serie erzählen sie die Geschichte vom Aufstieg des Radiomoderators Ken Jebsen zu einem rechtsradikalen Verschwörungstheoretiker und Antisemiten nach. Doch es geht um mehr als nur um Ken Jebsen: um den Einfluss von Algorithmen, die Reichweite von Fake News, russische Desinformation, Populismus, Geschwurbel, Querdenken und Verschwörungstheorien. Es war der Podcast des Jahres, da war sich Jury so einig wie selten, glänzend recherchiert, glänzend produziert, glänzend erzählt.

 

Multimedia

Einige hatten die Hoffnung schon aufgegeben. Doch im Oktober 2020 eröffnete der Flughafen Berlin Brandenburg doch noch, neun Jahre zu spät. Warum hat das so lange gedauert? Das Multimedia-Team des „Tagsspiegel“ kennt die Antworten, führt sie dem Publikum aufs Angenehmste vor und gewinnt dafür die Trophäe für die beste Multimedia-Arbeit. Der Preis geht an Hendrik Lehmann, Jens Brandenburg, Tino Breddin, Benedikt Brandhofer, Nina Breher, Ronny Esterluss, Stephan Gensch, Manuel Kostrzynski, David Meidinger, Thorsten Metzner, Linda Rath für ihre Arbeit „Der BER im 3D-Modell: Deswegen wurde 14 Jahre lang gebaut“. Die Jury war beeindruckt – und lobte einhellig den innovativen Erzählstil, die reibungslos funktionierende Technik, die stringente Dramaturgie.

 

Datenjournalismus

Die Reichsflagge als Emoji, AfD-Politiker, die für ein rechtes Modelabel posieren, Babys neben einer schwarzen Sonne, rassistische Hetze, Antisemitismus: Ein Team der Rechercheplattform CORRECTIV hat Instagram-Accounts analysiert – und zeigt, wie die rechte Szene auf der vermeintlich unpolitischen Plattform junge Menschen verführt. In acht Monaten Recherche haben Till Eckert, Alice Echtermann, Arne Steinberg, Clemens Kommerell, Celsa Diaz mehr als 4.500 Accounts ausgewertet und schildern in ihrer Arbeit „Kein Filter für rechts“, wie schamlos die rechten Rattenfänger auf Instagram fischen – ohne dass die die Plattform nennenswert dagegen vorgeht.

 

 

Die Ausschreibung

Seit 2009 verleihen wir am ersten Montag im Dezember den Reporter:innen-Preis - aktuell in zwölf Kategorien, von Reportage bis Investigation, von Essay bis Datenjournalismus. Inzwischen ist der schwere Messingstift - er erinnert an einen vielfach angespitzten Bleistift - eine begehrte Trophäe im deutschsprachigen Journalismus.

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Die Jury

Ein Journalistenpreis kann nur so gut sein wie seine Jury. Wer über die besten Texte des Jahres urteilen will, braucht ein feines Ohr. Und das haben unsere Jurorinnen und Juroren. Einige entstammen dem Printjournalismus, aber es sind auch Fernsehleute dabei, Schauspieler, Wissenschafterinnen, Unternehmer.

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