Sonderpreis für Anna Babinets

Der Sonderpreis des Deutschen Reporter:innen-Forums geht 2022 an die ukrainische Journalistin Anna Babinets. Sie ist Chefredakteurin des investigativen Recherche-Portals slidstvo.info. Mit ihrem Team recherchiert Babinets die Hintergründe kriegerischer Gräueltaten in der Ukraine und ordnet sie Personen zu. Babinets und ihr Team geben russischen Kriegsverbrechern ein Gesicht.

Seit dem 24. Februar 2022 haben Babinets und ihr Team hunderte Kriegsverbrechen rekonstruiert. „Als der Krieg begann, dachten wir, dass unser Wissen und unsere Werkzeuge als Investigativjournalisten nicht länger von Nutzen sind“, sagt Babinets. Das änderte sich nur wenige Tage später, als die ersten Berichte über Kriegsverbrechen bekannt wurden. Plötzlich wussten sie: Wir werden gebraucht. „Denn wir wissen, wie man mit journalistischen Methoden Verbrechen untersucht." Das Team entschied sich, den Fokus zu wechseln.

Wir bewundern ihren Mut und ihre Entschlossenheit. Wir sind stolz, dass sie am 5. Dezember 2022 zur Preisverleihung nach Berlin kam, um den Sonderpreis des Reporter:innen-Forums in Empfang zu nehmen.

 

Hier die eindrückliche Laudatio von Armin Wolf:

"Regelmäßig loben wir bei Preisverleihungen Journalist:innen auch für ihren Mut. Weil gerade Investigativ-Journalist:innen mit ihren Recherchen und Enthüllungen oft mächtige Menschen und Institutionen kritisieren. Aber, wenn wir uns ganz ehrlich sind, ist die Arbeit von Reporter:innen in Ländern wie Deutschland oder Österreich in der Regel nicht gefährlich. Am ehesten noch bei einer rechtsextremen Demonstration in Ostdeutschland, aber nicht, weil wer eine Korruptionsaffäre aufdeckt oder eine Ministerin durch eine peinliche Enthüllung zum Rücktritt zwingt.

Was passiert da schon? Dass man mal angebrüllt wird. Oder vielleicht geklagt. Aber die allermeisten von uns werden wegen ihrer Arbeit weder körperlich attackiert, noch eingesperrt und schon gar explodiert ihr Auto. Und außer Kathrin Eigendorf, Antonia Rados, Christoph Reuter oder Paul Ronzheimer kennen die allermeisten von uns Kriege - glücklicherweise - auch nur aus dem Fernsehen.

In der Ukraine ist das seit neun Monaten und elf Tagen anders. Da kennt jedes Kind den Krieg. Und alle Journalist:innen. Dort ist seither nicht nur die Arbeit lebensgefährlich, sondern der Alltag. Näher „dort, wo Geschichte stattfindet“, wie Ariel Hauptmeister den wichtigsten Einsatzort von Reporter:innen beschreibt, kann man nicht sein.

Aber auch schon vor dem 24. Februar mussten in der Ukraine viele Journalist:innen tatsächlich mutig sein, um ihren Job zu tun.

Pavel Sheremet zum Beispiel, einer der prominentesten Radiojournalisten und Blogger des Landes, starb am 20. Jul 2016 um 7h45 am Weg ins Radiostudio, als an einer Kreuzung mitten in Kiew das Auto seiner Lebensgefährtin explodierte: Von Olena Prytula, der Herausgeberin des Investigativ-Portals Ukrayinska Pravda. Dessen Mitgründer Georgiy Gongadze wurde bereits im Jahr 2000 auf einem ukrainischen Waldstück gefunden. Enthauptet. Beide Morde wurden nie endgültig aufgeklärt, aber dass der ukrainische Sicherheitsapparat in beide Fällen involviert war, gilt als sicher. Im Fall von Pavel Sheremet 2016 wissen wir das aus einer preisgekrönten und auch heute noch sehr sehenswerten Dokumentation: Killing Pavel.

Eine der Autorinnen dieser Doku ist ANNA BABINETS, die Mitgründerin und Chefredakteurin von Slidstvo.Info, eines kleinen, aber extrem engagierten Investigativ-Mediums, das sich in den letzten Jahren online und in einem wöchentlichen TV-Magazin vor allem mit der grassierenden Korruption in der Ukraine beschäftigt hat. Von Slidstvo.Info haben wir zum Beispiel gelernt, dass Präsident Selenskji und seine engsten politischen Berater, allesamt frühere Partner seiner Fernseh-Produktionsfirma, ein ziemlich undurchsichtiges Briefkastengeflecht in karibischen Steueroasen betreiben oder jedenfalls betrieben haben. Die Grundinformationen dafür stammten aus den Pandora-Papers, an deren Aufarbeitung Anna Babinets und Slidstvo.Info ebenso beteiligt waren wie an den Panama-Papers oder an den Recherchen über die dubiosen Geschäfte von Ex-Präsident Poroschenko.

Diese Art von Journalismus erfordert in der Ukraine tatsächlich Mut.

Aber am 24. Februar hat sich das alles nochmal über Nacht geändert. Mit den russischen Bomben, die ab fünf Uhr früh, über Kiew niedergingen, wurde die Korruption als drängendstes Problem im Land verdrängt vom Überleben gegen einen seit 1945 in Europa beispiellosen militärischen Überfall.

Und noch am selben Tag beschloss das Redaktionsteam von Slidstvo.Info, seine Erfahrungen und Kenntnisse im Recherchieren und Aufdecken für ein anderes Thema einzusetzen. „Wir dachten, das was wir können, ist in einen Krieg nicht nützlich“, hat Anna Babinets mal erzählt: „Bis wir realisiert haben, dass dieser Krieg ein riesiges Verbrechen ist und dass wir wissen, wie man Verbrechen recherchiert.“ Seither dokumentiert das Redaktionsteam russische Kriegsverbrechen in der Ukraine.

Und war in einer Detailgenauigkeit und so gut belegt, dass diese Rechercheergebnisse für die juristische Verfolgung der Täter genützt werden können. Slidstvo.Info hat auf der Basis von Open Source Intelligence eine gigantische Online-Datenbank erstellt mit den Namen von mehr als 150.000 russischen Soldaten und Offizieren in der Ukraine. Und mehrere hundert konkrete Kriegsverbrechen im Detail dokumentiert. Unter den ersten zehn Verfahren, die der ukrainische Generalstaatsanwalt schon im April eröffnet hat, gingen sieben auf diese Recherchen zurück.

Slidstvo.Info hilft damit den ukrainischen Behörden, aber es ist natürlich trotzdem ein journalistisches Projekt, das nicht nur unendlich wichtige Geschichten dokumentiert, sondern sie auch erzählt. Wenn etwa die 33 Tage russische Besatzung in Butscha aus einer gemeinsamen Telegram-Gruppe von achtzig Bewohner:innen von Wohnblock 17 minutiös und multimedial rekonstruiert werden: Dann ist das – jenseits des erschütternden Inhalts – einfach ein fantastisches Stück Journalismus.

Diese Geschichten entstehen jedoch nicht an einem Kriegsschauplatz, an den die Reporter:innen von Slidstvo.Info für ein paar Tage oder Wochen parachuten, bevor sie wieder in ihre sichere Heimat zurückfliegen können. Sondern sie und alle anderen ukrainischen Journalist:innen leben seit einem Dreivierteljahr in diesem Krieg. Und müssen, wie Anna Babinets, neben ihren Recherchen ihre Kinder nicht nur versorgen, sondern tatsächlich beschützen - während sehr viele ihre Männer, Partner, Brüder und Cousins bei der Armee sind. In einem echten Krieg. Mitten in Europa.

Anna Babinets und Slidstvo.Info wurden in den letzten Jahren zu Recht mit einigen internationalen Journalismus-Preise ausgezeichnet. Und heute kommt für ihre wichtige Arbeit, für ihren Einsatz, ihre Entschlossenheit und Ihren Mut – und auch stellvertretend für sehr viele andere Kolleginnen und Kollegen in der Ukraine – der Sonderpreis des Reporter:innenforums dazu. Herzlichen Glückwunsch!"

Die Ausschreibung

Seit 2009 verleihen wir am ersten Montag im Dezember den Reporter:innen-Preis - aktuell in zwölf Kategorien, von Reportage bis Investigation, von Essay bis Datenjournalismus. Inzwischen ist der schwere Messingstift - er erinnert an einen vielfach angespitzten Bleistift - eine begehrte Trophäe im deutschsprachigen Journalismus.

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Die Jury

Ein Journalistenpreis kann nur so gut sein wie seine Jury. Wer über die besten Texte des Jahres urteilen will, braucht ein feines Ohr. Und das haben unsere Jurorinnen und Juroren. Einige entstammen dem Printjournalismus, aber es sind auch Fernsehleute dabei, Schauspieler, Wissenschafterinnen, Unternehmer.

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