Den Sonderpreis des Reporter:innen-Forums erhält die belarussische Chefredakteurin Marina Zolotova.
Sie war Chefredakteurin von Tut.by, der wichtigsten unabhängigen Stimme in Belarus, von rund einem Drittel der Menschen im Land gelesen. Seit Mai 2021 sitzt sie in Untersuchungshaft. Ihr drohen bis zu 15 Jahre Gefängnis wegen „Beihilfe zur Steuerhinterziehung“. Es ist die unverhohlene Rache des Lukaschenko-Regimes dafür, dass Marina und ihre Redaktion mutig und unerschrocken über die Proteste berichteten.
Wir bewundern ihren Mut und ihre Entschlossenheit, sich mit all ihrer Kraft für eine freie Presse und ein demokratisches Belarus einzusetzen. Wir werden fortlaufend berichten, wie es ihr im Gefängnis ergeht.
Hier die eindrückliche Laudatio von Katja Gloger, Sprecherin von RSF Reporter ohne Grenzen Deutschland und viele Jahre lang Korrespondentin in Moskau:
„Wie ist es, meine Damen und Herren, in einem Land wie Belarus, gar nicht so weit von uns entfernt, dem Beruf als Journalistin oder Journalist nachzugehen? Das zu tun, was unsere Pflicht ist. Informationen zu sammeln und zu überprüfen, die Arbeit der Regierenden kritisch zu hinterfragen. Und dabei unabhängig zu bleiben, der Suche nach Fakten und Wahrheit verpflichtet.
Diesen Beruf unter der nun seit 27 Jahren dauernden diktatorischen Herrschaft Alexandar Lukaschenkas auszuüben, dies war schon immer, gelinde gesagt, schwierig. Sich als Redaktion zu behaupten gegen steten Druck, mal Brandschutzkontrollen, mal Buchprüfung, immer wieder der Wunsch, nein, der Befehl der „vlast’“, der Macht, bestimmte Artikel nicht zu veröffentlichen.
Und doch hatten sich in Belarus einige unabhängige Medien etabliert, Ausdruck wachsender Emanzipation der Gesellschaft, Ausdruck der Hoffnung auf friedlichen, demokratischen Wandel, zu dem ja auch das Menschenrecht auf Presse- und Meinungsfreiheit gehört. So wie DAS unabhängige Medium in Belarus: das Internetportal tut.by, vor gut 20 Jahren als journalistisches Start-up mit Bürgerservice-Charakter gegründet.
Marina Zolotova war früh dabei. Die studierte Philologin wollte immer Journalistin werden, hatte schon als Jugendliche Artikel für die bekannte Kinderzeitung Zorka, Morgenröte, geschrieben. Als Chefredakteurin machte sie tut.by zum bekanntesten Portal in Belarus. Mindestens jeder dritte Einwohner des Landes las tut.by, für viele war es so selbstverständlich - und notwendig - wie die erste Tasse Kaffee oder Tee am Morgen.
Raspelkurz ihr Haar, eine zierliche, unbeirrbare Person, Mutter von zwei Kindern und begeisterte Läuferin, die zum Halbmarathon antrat.
So formulierte Marina Zolotova das Berufsethos von tut.by: Wir müssen sicherzustellen, dass wir immer allen Seiten unangenehme Fragen stellen können.
Natürlich berichtete tut.by über die immer größer werdenden Demonstrationen gegen die wieder einmal fake Präsidentschaftswahlen im August 2020; eine Demokratiebewegung, eine Bedrohung für Lukaschenka und seine mafiosen Schergen. tut.by berichtete auch über die brutale Niederschlagung der Proteste. Tausende willkürlicher Verhaftungen, Folter durch vermummte Spezialkräfte; heute zählen Menschenrechtsorganisationen rund 800 politische Gefangene, darunter mehr als 20 Medienschaffende. Furchtbare Haftbedingungen, von Corona ganz zu schweigen.
Es traf auch tut.by. Am 18. Mai dieses Jahres durchsuchten Einsatzkräfte die Redaktionsräume in Minsk und anderen Städten; Marina Zolotova und 14 Kolleginnen, ja, die meisten unter ihnen Frauen, wurden wegen Verdachts auf Beihilfe zur Steuerhinterziehung festgenommen.
Seitdem sitzen sie und ihre Mitarbeitenden in Untersuchungshaft. Bis heute wurde gegen sie keine Anklage erhoben. Zum Vorwurf der Steuerhinterziehung aber könnte eine Anklage wegen angeblicher „Anstiftung zum Hass“ kommen; dazu die Arbeit für tut.by, das als Medium mit angeblich „extremistischen Inhalten“ verboten wurde.
Marina Zolotova, so steht zu befürchten, drohen bis zu 15 Jahre Haft.
Belarus gilt als gefährlichstes Land für Journalistinnen und Journalisten in Europa. Durch verschärfte Gesetzgebung wird ihre Arbeit so gut wie unmöglich gemacht. Das Regime, unterstützt von Moskau, hat Rache zur Politik erklärt. Für unabhängige Journalistinnen und Journalisten in Belarus stellt sich heute nicht die Frage, ob sie verhaftet werden, sondern wann. Oder sie müssen wählen: Beruf oder Land. Eine Entscheidung für ein Exilleben, die man eigentlich gar nicht treffen kann. Und vielleicht doch muss.
Marina Zolotova entschied sich, zu bleiben. Als Chefredakteurin trage sie Verantwortung für ihre Kolleginnen und Kollegen, all’ die, die da draussen auf den Strassen unter großen Gefahren weiterhin ihrer Arbeit nachgingen. Sie war wie ein Kapitän, der sein Schiff nicht verlässt, sagen ihre Kolleginnen. Viele von ihnen müssen nun aus dem Ausland arbeiten. Sie machen weiter, Zerkalo ihr neues portal, der Spiegel. Wer Zerkalo in Belarus abonniert oder Inhalte teilt, dem drohen Repressionen, gar Haft.
Wir werden weitermachen, sagen sie bei Zerkalo, bis Marina und die anderen freikommen.
Wenn es sein muss, 15 Jahre lang.
Vor einem Monat wurde Marina Zolotova 44 Jahre alt. In der Haft hat sie sich den Kopf kahlscheren lassen - auch der Läuse wegen. Sie fühlt sich jung, wie sie sagt.
Zum Geburtstag schickte ihre Mutter ein Paket mit warmer Kleidung, denn es ist kalt in den winzigen, meist überfüllten Arrestzellen im Untersuchungsgefängnis Nr. 1 an der Wolodarskij-Strasse Nr.2 in Minsk, sehr kalt, und die krankmachende Feuchtigkeit kriecht unter die Haut. Sie weiss nicht, ob der Inhalt des Pakets ihre Tochter erreicht hat.
Manchmal hat Marina Hofgang. Der Kälte trotzend will sie sich dort „stählen“, wie sie sagt. Und ein Stück vom Himmel sehen. Wie grau er ist in diesen Tagen. Man kann ihr schreiben. Ohne große Hoffnung darauf, dass sie die Briefe lesen darf.
In keinem Fall aber darf man sie vergessen. Es wäre ein Sieg Lukaschenkas. Die stete, unmissverständliche Forderung nach ihrer Freilassung ist das Mindeste, was wir ihnen schulden. Abgeordnete des Europäischen Parlaments, auch des Deutschen Bundestages, haben Patenschaften für die politischen Gefangenen von Belarus übernommen, auch für Marina Zolotova. Reporter ohne Grenzen fordert die Bundesregierung auf, großzügig humanitäre Visa für Medienschaffende zu erteilen, die nicht mehr im Land bleiben können.
Und ja, auch Auszeichnungen helfen gegen das Vergessen. So wie dieser Preis, der diesjährige Sonderpreis des Reporter:innen-Forums. Ein Zeichen unseres tiefen Respekts für die Arbeit einer hervorragenden Journalistin; für ihren unbeugsamen Mut und ihre Überzeugung, dass unabhängige journalistische Arbeit etwas zum Guten verändern kann, für ihren Beitrag für die Demokratie, die ohne Pressefreiheit nicht sein kann. Wir dürfen ihn an ihre Kollegin Alexandra Puschkina überreichen, die jetzt im Ausland leben und arbeiten muss.
„Ich habe keine Zweifel daran, dass unser Land eine wunderbare Zukunft hat“, sagte Marina Zolotova. „Wir werden nie wieder Sklaven sein.“
Dieser Preis für Marina Zolotova und all’ die, die für diese wunderbare Zukunft arbeiten, an sie glauben. Wir überreichen ihn mit unserer tiefen Verneigung."
Seit 2009 verleihen wir am ersten Montag im Dezember den Reporter:innen-Preis - aktuell in zwölf Kategorien, von Reportage bis Investigation, von Essay bis Datenjournalismus. Inzwischen ist der schwere Messingstift - er erinnert an einen vielfach angespitzten Bleistift - eine begehrte Trophäe im deutschsprachigen Journalismus.
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Ein Journalistenpreis kann nur so gut sein wie seine Jury. Wer über die besten Texte des Jahres urteilen will, braucht ein feines Ohr. Und das haben unsere Jurorinnen und Juroren. Einige entstammen dem Printjournalismus, aber es sind auch Fernsehleute dabei, Schauspieler, Wissenschafterinnen, Unternehmer.
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