Vivian Pasquet, wie arbeitest Du?

Du bist Dr. med., sehnst du dich manchmal danach, als Ärztin und nicht als Journalistin zu arbeiten?
Ja – immer wenn ich einen Text schreibe und nicht weiterkomme. Dann lese ich Stellenausschreibungen und träume mich in ein anderes Leben. Aber sobald ich wieder auf Recherche bin oder einen Text beendet habe, sind solche Gedanken vergessen.
 
Deine Geschichten handeln von extremen Schicksalen, an die man als Leserin oft zurückdenkt. Mit welchen deiner Protagonisten und Protagonistinnen bist du noch in Kontakt?
Bis auf wenige Ausnahmen habe ich mit den meisten Protagonisten und Protagonistinnen keinen Kontakt mehr. Trotzdem denke ich immer wieder an die Begegnungen zurück, kaum eine Geschichte lässt mich unberührt. Aber oft ist die gemeinsame Zeit auch deshalb so intensiv, weil klar ist, dass sie irgendwann endet. Meist reißt der Kontakt nicht sofort ab – gerade direkt nach der Veröffentlichung tauschen wir uns noch aus. Oft ist aber irgendwann alles gesagt und nach der Veröffentlichung beginnt ein neuer Abschnitt.
 
Weißt du, wie es Till Theuerkauf geht, dem krebskranken Jugendlichen aus deiner fantastischen Geschichte über den neuesten Stand der Krebsforschung, mit der du in diesem Jahr für den Reporter:innen-Preis nominiert warst?
Ja, die Familie Theuerkauf zählt zu den Protagonisten, mit denen ich weiterhin Kontakt habe. Till hat die Krebstherapien unglaublich gut weggesteckt. Vor ein paar Wochen hat mir Frau Theuerkauf geschrieben, dass er seinen 18. Geburtstag gefeiert hat. Bislang ist der Krebs nicht zurückgekehrt. Es ist so etwas wie Alltag bei der Familie eingekehrt. Trotzdem ist jede Kontrolluntersuchung natürlich eine große emotionale Belastung.
 
Wird Krebs in einigen Jahren eher eine chronische Krankheit sein?
Krebs ist nicht gleich Krebs. Bestimmt wird es einzelne Krebsarten geben, mit denen Erkrankte noch lange leben – oder die komplett heilbar sein werden. Aber leider ist der forschende Mensch der Zerstörungswucht von Krebs immer noch in vielen Aspekten unterlegen.
 
Du schreibst elegant, ohne einen Hauch kitschig zu sein. Konntest du das schon immer?
Nein, das war ein Prozess. In meinem ersten Praktikum während meiner Zeit auf der Henri-Nannen-Schule, bei einer Lokalzeitung, habe ich mal über eine Frau geschrieben, die nach einer Krebserkrankung ein Kasperletheater gegründet hat. Ich habe schrecklich kitschige Sätze geschrieben. Ich war besoffen von meinen Worten und habe dabei vergessen, dass es nicht um mich geht, sondern um die Frau und die Geschichte, die ich erzählen möchte. Als ich den Text später unserem Schulleiter Andreas Wolfers zum Redigieren gegeben habe, hat er mehrere Seiten einfach durchgestrichen. Daneben stand: „Frau Pasquet, was haben Sie denn genommen?“. Das war sehr heilsam.
Heute weiß ich: Je tragischer ein Thema, desto mehr muss ich mich als Autorin sprachlich zurücknehmen. Um die Geschichte zu transportieren ist etwas anderes als Kitsch viel wichtiger: Sehr tiefe und penible Recherche. So kann man sehr detailreich, schlank und unaufgeregt schreiben.
 
Wie geht es der Reportage?
Das ist eine große Frage, die ich sicherlich nicht allein beantworten kann. Immer wieder aber bekomme ich mit, dass die Schreiber nicht mehr genug Zeit für Ihre Reportagen bekommen und/oder die Honorare für Freie teilweise peinlich niedrig sind. Das bedrückt mich.
Generell gibt es sehr gute Reporterinnen und Reporter – aber in letzter Zeit lese ich auch immer wieder Texte, bei denen ich denke: Hier möchte der oder die Autorin sich profilieren, zeigen, wie toll er oder sie schreiben kann oder was für krasse Information recherchiert wurden. Zu einer guten Reportage gehört aber auch, dass man sich selbst nicht wichtiger als den Stoff nimmt. Als Leserin spüre ich, ob sich ein Autor für die Menschen, über die er schreibt, wirklich interessiert.
 
Drei "Health-Hacks" einer Ärztin?
An einem höhenverstellbaren Schreibtisch arbeiten.
Statt Netflix zu schauen lieber meditieren lernen.
Immer eine Zweitmeinung einholen, wenn ein Arzt eine Diagnose stellt.
 
Ein Recherchetrick?
Beim Recherchieren reicht mir die Zweitmeinung nicht – ich brauche auch eine Dritt- und Viertmeinung. Heißt: Ich überrecherchiere meine Themen oft. Ich spreche lieber mit zu vielen als mit zu wenigen Leuten. So habe ich am Ende das Gefühl, den Stoff wirklich zu beherrschen.
 
Ein Schreibtick?
Ich brauche immer einen Einstieg, um mit dem Schreiben beginnen zu können. Kenne ich den Anfang nicht, kann ich nicht weitermachen.
 
Ein Schreibtrick?
Eine meiner früheren Textchefinnen sagte über Texte oft: „Da muss man mal Luft rauslassen.“ Immer, wenn ich schreibe, denke ich an diesen Satz. „Luft rauslassen“ bedeutet: Alles löschen, was den Text nicht voranbringt. Auf Sätze verzichten, von denen man beim Schreiben dachte, dass sie besonders schön oder intelligent klingen. Nicht weit ausholen und kurze Sätze schreiben. Der Text soll voller Details sein, superdicht, und keine leeren Sätze haben. Bei Wissenschaftsreportagen achte ich außerdem darauf, komplizierte Information klar in kompakten Absätzen zu erzählen – und Information zum gleichen Themenkomplex nicht über den ganzen Text zu verstreuen. Und noch etwas: Lieber etwas mehr erklären, als zu wenig – das gilt meiner Meinung nach für jede Reportage.
 
Auf welchen deiner Texte bist du heute stolz?
Ich arbeite sehr intensiv an meinen Texten, zweifele oft und gebe mir viel Mühe. Auch wenn bestimmt nicht alle toll sind, bin ich auf mehrere stolz, aus ganz verschiedenen Gründen. Auf eine persönliche Geschichte über das Stottern zum Beispiel, weil viele Menschen danach gesagt haben, sie hätten zum ersten Mal verstanden, was Stottern eigentlich ist. Oder auf eine Reportage, für die ich ganz am Anfang der Corona-Pandemie ein Krankenhausteam in Bonn begleitet habe. Ich war Tag und Nacht in der Klinik unterwegs und konnte so sehr detailreich und nah erzählen. Aber ähnlich schön wie eigener Stolz ist die Rückmeldung mancher Protagonisten. Eine Frau, die Pflegekinder mit Behinderung aufnimmt, hat nach der Veröffentlichung des Textes zu mir gesagt „Danke, dass du mich stolz auf mein Leben gemacht hast.“
 
Gutes Redigieren heißt für dich?
Ein gutes Gleichgewicht aus Wertschätzung und Erbarmungslosigkeit. Ich schätze Redigaturen, bei denen ich die Textliebe genau wie den strengen Blick des Redigierenden spüre. Was ich nicht so toll finde: Die erste Version eines Textes einfach durchzuwinken. Auch bei guten Texten geht es immer noch besser.
 
Welchen Text einer anderen Autorin, eines anderen Autors hättest du gern selbst geschrieben?
Den Text übers Sterben von Roland Schulz und die Ebola-Reportage von Malte Henk und Amrai Coen.
 
Geheimtipp, der jeden Text besser macht?
Vor dem Schreiben ein gutes Fundament schaffen. Heißt: Recherchieren, recherchieren, recherchieren. Umso mehr Infos und Details ich gesammelt habe, umso weniger Luft ist im Text. Nie mit Allgemeinplätzen zufriedengeben. Und: Nicht alles aufschreiben, was man im Block hat. Fast immer komme ich bei Texten an den Punkt, an dem ich die gleiche Sache anhand drei verschiedener Beispiele erzählen könnte. Immer aber merke ich am Ende: weniger ist mehr.
 
Ein Buch, das dich journalistisch geprägt hat (und warum)?
Mich haben eher die journalistischen Texte anderer Autoren und Autorinnen geprägt. Zum Beispiel die von Guido Mingels, Malte Henk, Henning Sußebach, Antje Windmann, Britta Stuff, Anita Blasberg, Wolfgang Uchatius, Jonathan Stock – um nur ein paar zu nennen.
 
Dein Lieblings-Wissenschaftsbuch?
„Wir sind Gedächtnis: Wie Erinnerungen bestimmen, wer wir sind“. Ein tolles Buch, das sehr beeindruckend erklärt, wie Erinnerungen entstehen und warum wir uns nicht auf sie verlassen können. Außerdem empfehle ich, sich einen Tag lang mit einem echten medizinischen Anatomie-Foto-Atlas in die Bibliothek zu setzen. Das lehrt Demut vor dem Leben und dem Menschsein.

 

Vivian Pasquet, halbes Jura- und ganzes Medizinstudium. Danach Henri-Nannen-Schule und Promotion zur Dr.med. Erst frei, vor allem für Spiegel und Geo, dann fünf Jahre Geo-Redakteurin. Seit 2022 Redakteurin beim Süddeutsche Zeitung Magazin. Achtmal für den Reporter:innen-Preis nominiert, gewonnen einmal für „Die Weltimpfung“, 2021, gemeinsam mit Martin Schlak. 

Vivian Pasquet beim SZ-Magazin