Rudi Novotny, wie arbeitest Du?

Gleich eine Frage zur Hauptfigur. Am Ende entwickelt Ella eine Unzufriedenheit mit ihrem ja dank Hormonen immer weiblicheren Körper, sie spritzt ihre Lippen auf, will größere als nur durchschnittlich große Brüste. Hat diese Unzufriedenheit vielleicht nicht nur mit ihrer Transgender-Thematik zu tun? Ist sie am Ende zufriedener mit sich?
Du beziehst dich auf das Ende der Geschichte. Für den Moment ja. Aber das ist eine Momentaufnahme, kurz nach einer Operation, bei der ihr auch die Brüste vergrößert wurden. Ob sie wirklich zufriedener mit sich ist, wird sich wohl erst in einigen Jahren zeigen. Nach den ersten Beziehungen und dem dazugehörigen Liebeskummer. Ist sie dann stark genug, sich zu akzeptieren? Ich hoffe es. Und tatsächlich glaube ich, dass diese Unzufriedenheit nur teilweise etwas mit der Transgender-Thematik zu tun hat, aber ganz viel mit gesellschaftlichen Ideen, was eine Frau oder einen Mann ausmacht.

Bei Langzeit-Begleitungen schaut man einer Protagonistin ja bei einer Veränderung zu. In der klassischen Heldinnenreise-Dramaturgie heißt das: etwas wird besser. Besteht da nicht die Gefahr, dass wir (unbewusst) dissonante Ereignisse ausblenden? Wann ist dir die Thematik – wie umgehen mit dissonanten Tönen – begegnet?
Schon bei der Recherche. Ich hatte damit gerechnet, dass ich ein Drama vorfinde – ein Transmädchen in der Provinz! Aber dann war Ella erstaunlich klar in ihrem Wunsch und das Umfeld erstaunlich unterstützend. Ihre Probleme waren meist die Probleme, die Teenager eben so haben. Sieben Jahre lang habe ich mich gefragt, ob das überhaupt eine Geschichte ist, die ich da gerade recherchiere. Erst beim Schreiben merkte ich, dass genau das die Stärke des Stücks ist: Wir alle sind ein bisschen Ella. Und das bringt sie den Leser*innen (hoffentlich) so nah. Von daher würde ich heute natürlich dafür plädieren, dissonante Töne bewusst stark zu machen und sie in eine stringente Rahmenerzählung zu integrieren. Ich vermute, es liegt daran, dass oftmals die Kategorien "dissonant" und "schlecht geschrieben" miteinander verwechselt werden.

Wie bist du eigentlich auf das Thema gekommen?
Ein alter Schulfreund von mir war Lehrer an Ellas Schule. Irgendwann erzählte er mir, dass es in seiner Klasse einen Schüler gebe, der als biologischer Junge geboren wäre, aber in Wirklichkeit ein Mädchen sei. Transgender war damals noch ein absolutes Nischenthema. Trotzdem fand ich die Geschichte faszinierend: Ein 12jähriges Kind stellt sich vor die Klasse und sagt, dass es im falschen Geschlecht lebt – und das in einer ländlichen, eher konservativen Gegend! Wie viel Kraft, wie viel Leidensdruck, muss so ein Kind haben?

War dir klar, dass du Ella sieben Jahre lang begleiten würdest?
Nein. Mir war nach dem ersten Gespräch klar, dass ich sie bis zur Operation begleiten will. Aber wann das ist, wusste keiner. Es gab ja auch einige unvorhersehbare Twists, bis es soweit war.

Warum warst du bei jeder Szene dabei? Hättest du nicht auch mehr mit Nacherzählungen arbeiten können?
Diese Frage schmerzt. Weil sie an ein Problem rührt, das unseren Beruf existenziell bedroht. Kurz gesagt: Schon wenn ich als Reporter eine Szene erlebe, habe ich einen subjektiven Filter. Wenn mir die gleiche Szene von einer Protagonistin nacherzählt wird, kommt ihr Filter noch obendrauf. Weil aber jede Nacherzählung geglättete Realität ist, steigt mit jedem Filter die Gefahr, dass ich meinen Text bestehenden Erwartungen und Weltbildern anpasse. Trotzdem werden solche Rekonstruktionen gerne wie Reportagen geschrieben. Es wird maximale emotionale Nähe und Wahrhaftigkeit suggeriert, bei tatsächlich größtmöglicher Entfernung zum Geschehen. Journalist*innen können den Unterschied ausmachen, Leser*innen oftmals nicht. Die fühlen sich im schlimmsten Fall betrogen. Und wenden sich ab.

Wie nah ist dir die Familie gekommen und wie hast du beim Autorisieren gearbeitet?
Sehr nah. Ich war ja sehr oft dabei, von Geburtstagen bis zur Konfirmation. Ella und ihre Mutter haben mir auch von ihren Ängsten, Hoffnungen, Enttäuschungen erzählt. Trotzdem hatte ich nie das Gefühl, zu nah zu sein, weil mein Leben so anders ist. Ich war kein Familienmitglied oder Freund – aber ein Begleiter. So hat mich Ella mal genannt und das trifft es ganz gut.
Bei der Autorisierung war immer klar, dass die beiden ein Vetorecht haben. Ella war ja noch minderjährig, als ich anfing sie zu begleiten. Ich wollte ihnen den Text aber nicht schicken. Einerseits weil ich das nie mache, andererseits weil ich mir Sorgen machte, dass Ella und ihre Mutter geschockt und überfordert sind, wenn sie so einen intimen Text über sich lesen. Deshalb habe ich ihnen den fertigen Text vorgelesen. Bei ihnen Zuhause. Zwei Stunden, viel Tee, paar Tränen, keine Änderungen. Ein schöner Abschluss.

Bist du noch mit ihnen im Kontakt?
Ja, aber sporadisch. Mein eigenes Leben ist sehr vollgepackt. Zudem ist Ella nicht unbedingt jemand, mit dem sich Termine einfach koordinieren lassen. Das hat mich bei der Recherche manchmal wahnsinnig gemacht, im Endeffekt war es aber ein großes Glück, weil ich es mich immer daran erinnert hat, dass wir unterschiedliche Rollen haben.

Ein Recherchetrick?
Dem Gesprächspartner ein bisschen was von sich erzählen. Und sich selbst nicht zu ernst nehmen. Mit beidem gewinnt man Vertrauen.

Ein Schreibtrick?
Nichts löschen. Lieber neu ansetzen und später die alten Absätze ausweiden.

Ein Schreibtick?
Ein Song, der mich bei langen Geschichten begleitet. Nicht, um in Stimmung zu kommen, sondern um beim Prokrastinieren das schlechte Gewissen zu übertönen.

Auf welchen deiner Texte bist du heute stolz?
Stolz ist ein komisches Wort. Es gibt einen Text von mir, den ich besser finde, als viele andere. Ich habe ihn vor einigen Jahren für das ZEITMagazin Wissen geschrieben, er handelt davon, dass es keine Liebe geben kann, wenn zu viel Bewegung ist. Erzählt anhand meines damaligen Lebens und der Heisenbergschen Unschärferelation.

Gutes Redigieren heißt für dich?
Das Wesen eines Textes herauszuarbeiten und ihm so Gestalt und Rhythmus zu geben.

Welchen Text einer anderen Autor:in hättest du gern selbst geschrieben?
Viele, wirklich. Der letzte war erst vor ein paar Tagen ein ZEIT-Dossier von Stefan Willeke über den Putin-Freund Matthias Warnig. Das hätte leicht zu hämisch oder zu anbiedernd werden können, aber beides ist nicht passiert. Stattdessen wurde ein Leben umrissen. Unaufgeregt, mit Humor und ohne Autoren-Eitelkeit. Typisch dafür die Szene, als Willeke beschreibt, dass Warnig nicht dreidimensional sehen kann und sich selbst davor warnt, das überzuinterpretieren.

Ein Geheimtipp, der jeden Text besser macht?
Jemandem – oder auch mehreren Menschen – die Geschichte erzählen. Ist es überhaupt eine Geschichte? Welche Gedanken, welche Informationen sind wirklich wichtig? Welche Fragen werden immer wieder gestellt? Welche Pointen funktionieren?

Ein Buch, das dich journalistisch geprägt hat (und warum)?
"Pulphead" von John Jeremiah Sullivan. Da hat jemand einfach das ganze pralle Amerika in ein Buch gepackt und mit schlauen Gedanken gespickt, ohne sich selbst toll zu finden. Nach diesem Buch wusste ich wieder, was ich als Journalist machen will: Rausgehen, beobachten, denken, schreiben.

 

Rudi Novotny ist Vize im Wissen-Ressort der "Zeit". Er hat die DJS besucht und an der University of Essex und der Hertie School of Governance studiert. Für das "Zeit-Magazin" begleitete er die Transfrau Ella sieben Jahre lang auf dem Weg in das richtige Geschlecht – und war damit für den Reporter:innen-Preis 2022 nominiert.

Rudi Novotny bei Die ZEIT