Beste Reportage
Seit fast zehn Monaten herrscht Krieg in der Ukraine. Wir mögen uns an viele entsetzliche Nachrichten gewöhnt haben, die Wucht dieser Reportage macht sprachlos. In Der letzte Zeuge erzählt Alexandra Rojkov vom SPIEGEL die Geschichte des 17-jährigen Kolja, der die Bombardierung von Mariupol überlebte – als einziger aus seiner Familie. Nun fragt er sich: Warum bin ich auf der Welt? Werden mich alle vergessen, wenn ich umkomme, als hätte ich niemals existiert? Hätte ich meine Familie retten können? Akribisch recherchierte Rojkov die Geschichte des ukrainischen Jungen, stundenlang sprach sie mit ihm, es waren „die besten und die schlimmsten Gespräche meines Lebens“.
Freie Reportage
In Pius, der Wilderer hat Tobias Scharnagl für STERN CRIME sprachgewaltig die Geschichte eines Mordes nacherzählt, der vor mehr als 40 Jahren in einem Osttiroler Bergdorf begangen wurde. Ein Wilderer wurde damals von einem Jäger erschossen, Fragen von Schuld und Rache sind bis heute der unerzählte Subtext der Dorfchronik. Die Crime-Geschichte fesselt, weil der Autor in eine nahe, ferne Welt blickt, eine, in der Eifersucht, Neid und Misstrauen die Menschen voneinander trennen, bis heute. Vor allem aber lobte Laudator Florian Illies die archaische, barocke Sprache des Autors – die heraussteche aus der Schmucklosigkeit, mit der heute viele Reportagen geschrieben seien.
Beste Investigation
Im Sommer 2021 überrannten die Taliban die afghanische Hauptstadt. Kabul wurde zur Falle für Tausende Afghanen – und für das Personal der deutschen Botschaft. In Elf Tage in Kabul – Die abenteuerliche Flucht der Deutschen aus Afghanistan haben Matthias Gebauer und Konstantin von Hammerstein vom SPIEGEL minutiös rekonstruiert, wie Politik und Verwaltung versagten, wie Bürokratismus und Inkompetenz in eine wilde Flucht der Deutschen aus Afghanistan mündeten. Gestützt auf eine profunde Kenntnis der Bundeswehr zeichnen die beiden Autoren das Drama der Taliban-Machtübernahme nach und schmieden aus den Handlungssträngen einen Mehrteiler, der so spannend erzählt ist wie eine TV-Serie. Und wirklich, demnächst wird der Stoff verfilmt.
Bester Podcast
Was fragen wir die letzten Zeitzeugen des Holocaust? Wie sprechen wir mit ihnen? Caroline Schmidt, Moritz Luppold und Katharina Mahrenholtz von NDR Info machen es vor, in ihrem Podcast Irene, wie hast du den Holocaust überlebt. Vier 16- jährige Schülerinnen sprechen über Zoom mit der 91-jährigen Irene Butter, geborene Hasenberg, die als Kind ins KZ Bergen-Belsen deportiert wurde, als „Austauschjüdin“ in die Schweiz entkam und später in den USA lebte. Die meiste Zeit ihres Lebens weigerte sie sich, die Sprache der Täter zu sprechen, für den Podcast lernte Irene Butter eigens wieder Deutsch. Die Mädchen fragten, Irene Butter erzählte, von ihrer glücklichen Kindheit im Berlin der 30er Jahre, vom Alltag im KZ, von der Angst, der Brutalität, dem Hunger. Schlicht und einfach und berührend, ein Muss zum Nachhören, urteilte die Jury.
Datenjournalismus
Was hat Zwangsarbeit mit ganz gewöhnlichen T-Shirts zu tun, T-Shirts, wie wir sie alle tragen? Die Antwort: Vielleicht stammt die Baumwolle, aus der sie gefertigt wurden, aus der Region Xinjiang im Westen Chinas und wurde von Zwangsarbeiter:innen gepflückt. Manuel Daubenberger und Florian Guckelsberger von STRG_F, Marcus Pfeil und Michael Anthony von Vertical52 und Jan Schwochow von der Scrollytelling GmbH haben wie wohl niemand vor ihnen im deutschsprachigen Journalismus Satellitendaten genutzt und analysiert, die Ergebnisse in durchdachte Grafiken gegossen und in spannendes Storytelling gepackt. Ein höchst innovative Recherche, urteilte die Jury, und eine Geschichte, die uns die Augen öffnet: Stammt auch die Baumwolle unserer T-Shirts von diesen Feldern?
Multimedia
In ihrem Stück Die Schlacht um Mariupol haben die Autorinnen und Autoren von ZEIT und ZEIT ONLINE das Wort Multimedia wörtlich genommen: Sie haben Videos, Karten, Satellitenbilder, Statistiken und Chatverläufe ausgewertet, um die Kampfhandlungen in Mariupol nachzuzeichnen, einem der schlimmsten Kriegsschauplätze in der Ukraine. Um eine Geschichte zu erzählen, die uns mitten hinein katapultiert in das Grauen, die fesselt und schockiert. Karsten Polke-Majewski, Kai Biermann, Paul Blickle, Annick Ehmann, Dorothea Fiedler, Christian Fuchs, Carla Grefe-Huge, Yassin Musharbash, Andreas Prost, Christina Schmidt, Julian Stahnke, Holger Stark, Julius Tröger, René Wiesenthal, Sascha Venohr, Anna Zhoukovets und Fritz Zimmermann machen die chaotische Gleichzeitigkeit des Krieges begreifbar – und zeigen, mit welcher Kraft die Ukrainerinnen und Ukrainer um ihr Leben und ihre Würde kämpfen.
Beste Wissenschaftsreportage
Alle reden über KI, Künstliche Intelligenz, aber kaum jemand weiß, was das eigentlich ist. Wer weiß schon, dass Maschinen neuerdings Gespräche führen, Bilder malen und Texte schreiben können? Reto Schneider hat für NZZ Folio die Rechenvorgänge und Netzstrukturen beschrieben, die sich hinter dem Buzzword KI verbergen. Sein Stück Wie lange braucht es uns noch? unterhält und beunruhigt. Nicht nur ließ er Absätze in seinem Text von einer KI vervollständigen. Auch seine Dankesrede auf der Bühne hielt eine KI aus seinem Handy. Sie war erschreckend unterhaltsam.
Beste Sportreportage
In Erlenbach am Main, in tiefer Provinz, gab es in den 1980er-Jahren eine Fußballmannschaft aus deutschen und türkischen Arbeiterkindern, die so gut war, dass sie noch die Jugendkicker von Bundesligamannschaften vom Platz fegte. Was war da los? Was wurde aus den Leuten? Das fragte sich Marc Neller von der WELT AM SONNTAG, damals Torwart der Mannschaft, und fuhr noch einmal zum SV Erlenbach. In seiner berührenden Reportage Sie waren Helden erzählt er, welche Kraft der Fußball entfalten, welche Begeisterung entfachen und welche Bindung er erzeugen kann. Es ist eine Reportage, die weit hinausgeht über die Geschichte eines Sportvereins und zeigt, wie großartig und selbstverständlich Gemeinschaft entsteht, wenn elf Menschen einem Ball hinterherjagen.
Beste Lokalreportage
Neugierig und vorurteilsfrei hat sich Katja Demirci vom TAGESSPIEGEL in Hart auf Hart der High-Deck-Siedlung genähert, einem Problemviertel von Neukölln. Es ist „das Beton gewordene schlechte Gewissen Berlins. Zu unangenehm, um sich ausdauernd damit zu beschäftigen, zu groß, um es zu ignorieren“, schreibt Demirci – und gewinnt für ihren Text die Auszeichung für die Beste Lokalreportage. Mikroskopisch genau beschreibt sie jene, die in der Siedlung leben, schildert einen Alltag, der von Diebstählen, Schlägereien, Drogenkonsum und Randale geprägt ist und schafft es dabei, die Menschen nicht in die typischen Schubladen von Ghetto-Bewohnern zu stecken. In einer markanten, kräftigen, bilderstarken Sprache, lobte die Jury.
Bester Essay
„Als jüdischer Deutscher ist man Deutscher, der sich auf sein Land nicht verlassen kann. Europäer, der sich auf Europa nicht verlassen kann“, schreibt Nele Pollatschek in ihrem Text, der in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG erschienen. Er hat den Titel Der Preis, den man dafür zahlt, als Jude in Deutschland zu leben und gewinnt die Auszeichnung für den besten Essay des Jahres. Anlässlich des Antisemitimus-Skandals auf der Documenta arbeitet Pollatschek heraus, warum Antisemitismus weniger Gefühl verletzt, sondern ganz konkret schadet, warum seine Opfer materielle Konsequenzen haben werden. Die Lakonie, die warmherzige Bitterkeit, das hohe sprachlichen Niveau, Wortneuschöpfungen wie „ermorderterseits“ – all das zeichne ihren Text aus und mache ihn ausgezeichnet, so die Jury.
Bestes Interview
Vor 50 Jahren wurden elf israelische Sportler beim Olympia-Attentat in München getötet, die beiden Sportler Shaul Ladany und Gad Tsabari überlebten, doch ihr Leben war für immer ein anderes. Patrick Bauer und Thomas Bärnthaler brachten die beiden für das Doppelinterview Das Blut klebt an diesen schönen Spielen im SZ-MAGAZIN zusammen – und schrieben einen bemerkenswerten Text, in dem sie ausführlich auch die Umstände dieser viele Stunden dauernden Begegnung schildern. Auf berührende Weise erfahren wir, wie radikal unterschiedlich das Attentat die beiden Sportler veränderte. Und noch etwas lobte die Jury: Exemplarisch führten Bauer und Bärnthaler vor, welche Kraft das Genre entwickeln könne, wenn man nicht nur Fragen stelle, sondern auch zuhöre – und ein Gespräch führe.
Beste Kulturreportage
Den Preis für die beste Kulturreportage geht an Cathrin Schmiegel und Katharina Meyer zu Eppendorf für ihren Text Dieses Kunstwerk soll an die Morde von Hanau erinnern. Die ganze Stadt ist dafür, erschienen in der ZEIT. Sie erzählen darin die Geschichte eines Denkmals nach, das an die Morde in Hanau erinnern soll – und bis heute nicht errichtet wurde. Das kafkaeske Scheitern des Projekts, emblematisch für die Geschehnisse in Hanau, beschreiben die Autorinnen szenisch und dialogisch wie ein Theaterstück, beobachten scharf und zeigen, wie schwer sich die deutsche Gesellschaft tut mit der Aufarbeitung rassistischer Übergriffe.
Seit 2009 verleihen wir am ersten Montag im Dezember den Reporter:innen-Preis - aktuell in zwölf Kategorien, von Reportage bis Investigation, von Essay bis Datenjournalismus. Inzwischen ist der schwere Messingstift - er erinnert an einen vielfach angespitzten Bleistift - eine begehrte Trophäe im deutschsprachigen Journalismus.
Ein Journalistenpreis kann nur so gut sein wie seine Jury. Wer über die besten Texte des Jahres urteilen will, braucht ein feines Ohr. Und das haben unsere Jurorinnen und Juroren. Einige entstammen dem Printjournalismus, aber es sind auch Fernsehleute dabei, Schauspieler, Wissenschafterinnen, Unternehmer.