Anita Blasberg, wie arbeitest Du?

Wie blickt man auf Autoren, wenn man ein Ressort geleitet hat, so wie du?
Ach, gar nicht anders als vorher. Ich glaube, entscheidender war, dass ich einige Jahre als Reporterin gearbeitet hatte, bevor ich ein Ressort geleitet habe. Das Verständnis für das, was Reporter tun, wie sie ticken, auch wie sie leiden, hat mich immer begleitet und – so hoffe ich – auch in der Zusammenarbeit geprägt. Ich wusste, wie man als Schreibende auf keinen Fall behandelt werden will.

Nämlich wie nicht?
Unnötiger Zeitdruck. Unaufrichtige Kommunikation. Unrealistische Erwartungen. Um nur ein paar der Dinge zu nennen.

Du hast ein wunderbares Buch geschrieben, in dem du den Vertrauensverlust, den viele Menschen in die Institutionen unseres Landes erlitten haben, erzählerisch am Beispiel deiner Mutter beschreibst. Wie kamst Du auf die Idee?
Trump und der Brexit hatten mich 2016 ernsthaft geschockt. Diese nicht mehr zu leugnende Tatsache, dass das Vertrauen vieler Menschen nicht nur am Rand, sondern in der Mitte der westlichen Gesellschaften erodiert war. Menschen, die sich von der etablierten Politik offenbar nichts mehr erhofften, die sie sogar offen verachteten. Danach haben sich ja auch bei uns die Alarmzeichen gehäuft: einzelne Stadtteile, in denen gerade noch jeder Vierte zur Wahl ging, all die Studien, in denen Befragte äußerten, dass es ja eh keinen Unterschied mehr mache, wer unser Land regiert. Ich halte es für brandgefährlich, das zu unterschätzen: Denn ist das Vertrauen in das gesamte System erstmal weg, ist es nur schwer wiederzuholen, dann ist der Boden bereitet für radikale Hetzer, wie wir zuletzt wieder in Italien und Frankreich gesehen haben.

Du hast sonst nie Ich-Reportagen geschrieben, wurdest selten einmal persönlich in deinen Texten – warum hast Du dich jetzt dazu entschieden, über Deine Mutter zu schreiben?
Zunächst: Meine Mutter ist der rote Faden des Buches. Es ist aber kein Buch über sie, sondern eins über unser Land. Trotzdem war sie so etwas wie der Auslöser: Meine Mutter war der vielleicht vertrauensvollste Mensch, den ich kannte. Eine glühende Demokratin, Helmut-Schmidt-Verehrerin und Grünen-Wählerin der ersten Stunde. Als ich während des ersten Corona-Lockdowns merkte, dass sie ihren Glauben an beinahe alles eingebüßt hat – die politischen Institutionen, die Wissenschaft, die Medien – da war ich so angefasst, auch überrascht, dass ich das unbedingt verstehen wollte.

Hat Dich das Buchschreiben selbst etwas gelehrt?
Lockerlassen vielleicht. Das Buchschreiben hat bei mir ziemlich viele unnötige Hemmungen, Barrieren und sonstigen Quatsch entfernt. Als ich nur wenige große Texte im Jahr geschrieben habe, war das immer so ein Buhei: Da musste die Stimmung gut sein, der Kaffee, es brauchte Zigaretten und so fort. Beim Buchschreiben wird Schreiben irgendwann wie Atmen. Du machst ja nichts anderes.

Was lernt man über unsere Branche, wenn man als Buchautorin schließlich selbst interviewt wird?
Man lernt, wie wenig Zeit die meisten Journalisten heute noch haben. Zum Beispiel, um zu lesen, auch um sich vorzubereiten – was keine Kritik am Einzelnen sein soll. Es ist aber interessant, dass viele Gespräche mit dieser Entschuldigung beginnen.

Gibt es Reportage-Manierismen, die du nicht mehr sehen kannst?
Furchtbar abgenutzt finde ich diese Banalitäten im ersten Satz kombiniert mit bedeutungsschwangerem Geraune: Es war ein nasskalter Novemberabend, als das Leben von Müller/ Meier/ Schmidt sich für immer ändern sollte. Ein bisschen aggressiv macht mich auch diese gern bemühte Didaktik: Wer das und das verstehen will, sollte das und das tun. Oder: Um zu verstehen, wie x und y passiert ist, muss da und dorthin gehen. Ach echt, denke ich dann immer, ich muss gar nix.

Ein Recherchetrick?
Nett sein. Vielleicht auch authentisch sein. Ich bin ja ein eher zurückhaltender Mensch, und deshalb sind viele Recherchen, bei denen ich mich an ein Gegenüber heften muss, manchmal gegen dessen Willen, ein Stunt für mich. Ich muss aufdringlich sein, wozu ich mich nur schwer überwinden kann, was ich dann manchmal thematisiere oder die Leute merken. Und plötzlich reden sie dann doch mit mir. Keine Ahnung, ob aus Mitleid oder weil sie selbst ihre Angst verlieren.

Ein Schreibtrick?
Laufen. Wenn ich nicht weiterkomme oder mir alles banal und blöd erscheint, klappe ich den Rechner zu und gehe spazieren. Es ist mir noch nie passiert, dass ich danach keine Idee gehabt hätte, wie es weitergehen könnte.

Ein Text von dir, den du heute anders schreiben würdest?
Alle. Irgendwas Kleines würde ich immer anders machen. Deshalb vermeide ich es meist, sie nochmal zu lesen.

Auf welchen deiner Texte bist du heute stolz?
Vielleicht am ehesten auf solche, für die ich Widerstände überwinden musste – sei es von Seiten der Redaktion oder der Wirklichkeit. Da fällt mir zum Beispiel mein Portrait von Overdose ein, einem lahmenden ungarischen Rennpferd, das besser abgeschirmt wurde als die Bank of England, wo zuerst niemand mit mir reden wollte, wo auch nicht jeder in der Redaktion verstand, was ich da eigentlich über Monate mache. Aber als das Pferd, an das niemand mehr glaubte, bei seinem Comeback völlig unerwartet seinen Gegnern davonflog, musste ich heulen. Wegen dem Pferd, das einen unglaublichen Kampf hinter sich hatte. Vielleicht auch ein bisschen wegen mir, weil ich endlich den Schluss meiner Geschichte hatte.

Gutes Redigieren heißt für dich?
Einem Text das hinzuzufügen, was die Autor:in selbst meint, aber nicht in Worte gefasst hat. Nicht nur Sätze begradigen und den Lesenden Brücken bauen, sondern die eigene Eitelkeit in den Dienst einer oder eines Anderen zu stellen. Das größte Kompliment ist dabei auch gleichzeitig die größte Kränkung: Wenn dir Autor:innen nach mehreren Stunden Redigat sagen: Ach wie schön, die Redaktion hat ja kaum was gemacht.

Welchen Text einer anderen Autor:in hättest du gern selbst geschrieben?
Das ist ganz schwer, da einen herauszugreifen. Spontan fällt mir nur einer ein, über den ich damals tatsächlich selbst nachgedacht hatte, bevor ich ihn in der Zeitung las: ein großartiges Portrait des Schauspielers Birol Ünel, das Sven Hillenkamp geschrieben hat. Der Protagonist sträubt sich, und dieses Sträuben ist dann auch das Thema des Textes.

Geheimtipp, der jeden Text besser macht?
Ihn seinem Partner oder seiner Mutter vorlesen – niemand ist ehrlicher und trotzdem wohlwollend.

Ein Buch, das dich journalistisch geprägt hat (und warum)?
„Die Abwicklung“ von George Packer. Ein Buch über den Niedergang Amerikas in den letzten Jahrzehnten, erzählt an den Lebensgeschichten extrem großer und vollkommen durchschnittlicher Menschen. Beeindruckt – und auch für mein Buch geprägt – hat mich Packers selbstbewusster Zugriff: The big picture aus lauter Flicken zusammen zu weben, bis am Ende ein Teppich entsteht aus historischen Linien einerseits und lebendigen Mikro-Kosmen andererseits. Das finde ich spannend: Große geschichtliche Zusammenhänge, erzählt mit den Augen und Werkzeugen eines Reporters.

Anita Blasberg begann 2009 als Redakteurin im ZEIT-Dossier, entwickelte später das Ressort Entdecken und leitete es in Doppelspitze mit Dorothé Stöbener. Im September ist ihr erstes Sachbuch erschienen, "Der Verlust". Heute arbeitet sie als Reporterin bei der ZEIT.

Anita Blasberg bei DIE ZEIT